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Dahn im Dezember 2007


Es geschah vor 70 Jahren –
Das tragische Schicksal des Dahner Juden Sigmund Rosenstiel

Von Otmar Weber



Vor etwa sieben Wochen wurde in Dahn in der Pirmasenserstraße 6 eines der ältesten Dahner Judenhäuser abgerissen. Mit diesem Haus verbindet sich das tragische Schicksal des Juden Sigmund Rosenstiel. Vor genau siebzig Jahren benutzte der damalige NSDAP-Ortsgruppenleiter Karl Zimmer einen geplanten Garagenanbau für dieses Haus, um Sigmund Rosenstiel hinter Schloss und Riegel zu bringen.

Karl Zimmer, geboren 1905, wurde 1933 als Postassistent aus der Nordpfalz nach Dahn versetzt, wo der überzeugte Nazi und Judenhasser zum NSDAP-Ortsgruppenleiter avancierte. Diesem NS-Mann war jedes Mittel recht, um Sigmund Rosenstiel zu vernichten. Zimmers böses Treiben in jener „braunen“ Zeit ist akribisch in einer Akte, die über siebzig Seiten umfasst, festgehalten.
Das Haus in der Pirmasenserstraße 6 gehörte bis 1935 dem Juden Siegfried Josef, der es, bevor er mit seiner Familie nach Argentinien emigrierte, seinem Verwandten Sigmund Rosenstiel übereignete. Dieser verkaufte das Haus 1937 an Frau Dina Stöbener. Später ging das Haus auf ihren Sohn über, der es einer Nichte vermachte. Als 2005 die NPD Interesse an dem Objekt zeigte, hat die Stadt Dahn von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch gemacht und das Haus auf Abriss gekauft, um eine geplante NPD-Zentrale zu verhindern.
Sigmund Rosenstiel, geboren am 18.04.1875 in Dahn, verheiratet mit Marianne, geborene Schloß, hatte drei Kinder (Meta, Lotte, Jakob) wohnte und betrieb in der Marktstraße 24 ein Konfektionsgeschäft. 1936 übernahm Max Eisel das Wohnhaus mit Geschäft. Rosenstiel wohnte ab dieser Zeit bei Julius Katz, Marktstraße 16, zu Miete. Im 1. Weltkrieg war er als Sanitäter an der Westfront eingesetzt. Sigmund Rosenstiel war Mitglied in vielen örtlichen Vereinen und Mäzen des Dahner Fußballvereins. Politisch verstand er sich als Demokrat, der vorbehaltlos für die Weimarer Republik eintrat. Sigmund Rosenstiel besaß Zivilcourage, hielt mit seiner Meinung nicht hinterm Berg, und wenn es darauf ankam, konnte er resolut seinen Standpunkt vertreten. Mit Beginn der NS-Zeit hat er sich nicht versteckt, sondern Lieder pfeifend seine Rundgänge durch Dahn gemacht.
Der NSDAP-Ortsgruppenleiter Karl Zimmer war Rosenstiels Nachbar. Er sah in dem Juden ein permanentes Ärgernis, das es zu beseitigen galt. In einem Schreiben vom 09. Mai 1937 an die Kreisleitung in Pirmasens rechnete der Ortsgruppenleiter mit dem verhassten Juden ab. Er nahm eine Auseinandersetzung tags zuvor zwischen Rosenstiel und dem Schreiner J. Sch. zum Anlass, um Sigmund Rosenstiel in Schutzhaft nehmen zu lassen.

Karl Zimmer berichtete nach Pirmasens, dass das herausfordernde Benehmen des Juden Sigmund Rosenstiel in der Bevölkerung Spannungen hervorgerufen habe, die gestern zum Ausbruch kamen. Der freche Jude habe auf offener Straße mit seinem Spazierstock auf J. Sch., einen alten Mann, eingeschlagen. Zimmer, dem der Vorfall gegen 18.00 Uhr gemeldet wurde, war sich sofort darüber im Klaren, dass sich im nationalsozialistischen Deutschland unter keinen Umständen ein Jude das Recht herausnehmen darf, einen Volksgenossen, dazu mit einem harten Gegenstand, zu verhauen. Durch diesen Vorfall, der sich blitzschnell im Dorf herumsprach, fanden sich vor der Wohnung des Juden Volksgenossen ein und schrieen: „Schlagt den Juden tot!“ Die Erregung in der Bevölkerung war nach Zimmer so groß, dass er Rosenstiel sofort in Polizeigewahrsam nehmen ließ. Der Gendameriemeister F. begründet die Inschutzhaftnahme, die er gegen 20.00 Uhr vorgenommen hat damit, dass bei Eintritt der Dunkelheit weitere Tätlichkeiten und sicher „eine Lynchjustiz stattgefunden hätten“. Rosenstiel wurde noch am gleichen Abend gegen 22.00 Uhr in das Gefängnis Pirmasens eingeliefert.
Der Ortsgruppenleiter berichtet weiter in seinem Schreiben, dass dieser Jude in letzter Zeit in provozierender Weise sogar Lieder der NS-Bewegung pfeifend durch die Strassen ging, in der Nähe von Volksgenossen extra ausspuckte, Beamte des Staates beleidigte, ein freches Verhalten an den Tag legte und Nachbarsleute schikanierte. Da Rosenstiel gegenüber Zimmer wohnte, ließ der Jude morgens in aller Frühe manchmal eine Viertelstunde und mehr im Hof sein Motorrad laufen, nur um den Ortsgruppenleiter zu ärgern. Auch war der Jude an der Grenze beim Germanshof gesehen worden, so dass die Vermutung bestand, dass er Geld ins Ausland schmuggelte. Zimmer traute diesem gemeinsten und frechsten Juden alles zu, sogar Spionage. Für den Ortsgruppenleiter war dieser Vollblutjude zu einer Plage im ganzen Dahner Tal geworden, der durch sein raffiniertes und provozierendes Verhalten eine Situation geschaffen hatte, die jetzt für ihn selbst gefährlich war. Die Erregung der Bevölkerung war auf einen Punkt gelangt, wo sie sich ganz energisch gegen dieses Scheusal zur Wehr setzen musste. Sobald sich der Jude hier noch einmal sehen ließe, würden die Volksgenossen zur Selbsthilfe greifen und den Juden kalt machen. Der Ortsgruppenleiter stellte in seinem Schreiben abschließend fest:
„Entgegen meinen Feststellungen wird dieser Jude beim Verhör ganz anders aussagen und zwar, dass er noch immer ehrlich war, niemand betrogen hat, niemand belästigt hat und dass er überall ein sehr beliebter Mann ist usw., dass übliche Judengeheul. Er versteht sich zu verteidigen. Dieser Jude ist ein Schweinehund und ist ihn in gar keiner Beziehung Glauben zu schenken. Ich kenne ihn durch ein früheres Verhör, wo ich ihm in einer Sache vernehmen musste. Er stört die öffentliche Ordnung durch sein ärgernisserregendes Benehmen. Zudem ist es der Gipfelpunkt jüdischer Frechheit mit einem Stock einen Vg. (Volksgenossen), zudem einen alten Mann, zu hauen. Ich stelle daher folgenden Antrag: 1. längeres Festhalten des Juden evtl. Überführung nach Dachau, 2. zur Auflage machen, dass er niemals wieder Dahn betreten darf. Nur so, aber auch nur so, verlangt die Bevölkerung von Dahn die Bestrafung dieses frechen Juden. Heil Hitler! gez. Zimmer, Ortsgruppenleiter“
Der „alte Mann“ J. Sch., der von Sigmund Rosenstiel traktiert wurde, war im gleichen Alter wie dieser und zuvor des Öfteren gegen Rosenstiel tätlich geworden, weil Rosenstiel mehrmals 52 RM für einen gelieferten, aber von J. Sch. nicht bezahlten Anzug eingefordert hatte. Die erregte Dahner Bevölkerung, die sich angeblich vor dem Anwesen Rosenstiel eingefunden haben soll, um den Juden kalt zu machen, bestand aus dem NSDAP-Mann Karl Zimmer und einigen seiner Gesinnungsgenossen, die bei der Verhaftung assistierten.

Der NSDAP-Ortsgruppenleiter ließ in seinem persönlichen Vernichtungskampf gegen Rosenstiel nicht locker. Schon wenige Tage später, am 21. Mai 1937, zeigte Zimmer in einem weiteren Schreiben an das Bezirksamt Pirmasens an, dass sich Rosenstiel schon vor der Machtergreifung wie ein Wahnsinniger gegenüber der NSDAP gebärdet habe. Als die NSDAP 1932 einen Rückschlag bei der Reichstagswahl zu verzeichnen hatte, war der Jude außer sich vor Freude und hisste die schwarz-rot-goldene Fahne. Im gleichen Jahr ist eine „Pfalzwachtbande“ unter der Führung des Juden Rosenstiel nach Darstein gefahren, um den Darsteinern, die schon des Öfteren 100%ig für Hitler gestimmt hatten, das Wahlergebnis zu vermasseln. Bei der von Zimmer diffamierten „Pfalzwachtbande“ handelte es sich um sieben namentlich genannte Dahner, die dem Zentrum, der Partei des politischen Katholizismus, angehörten und mit den „Hitlern“ so manches Scharmützel ausgefochten haben. Anfang Mai 1937 habe sich dieser Jude sogar die Frechheit erlaubt, dem Dahner Fußballverein zur Meisterschaft 25–30 Liter Bier zu spendieren, nur um Einfluss zu gewinnen. Der Wirt E. H. habe jedoch abgelehnt, aber die Spieler sind doch zu ihrem Freibier gekommen.
Neben diesen persönlichen „Recherchen“ gab Zimmer eine Reihe von Zeugen an, die gegen Rosenstiel aussagen sollten. Der Postarbeiter F. N. und der Finanzbeamte B. F. bestätigten zwar ausführlich die „unverschämte Art des Juden“, machten aber keine gerichtsrelevanten Aussagen. Der Fabrikarbeiter K., der bei Maurermeister J. M. als Gehilfe tätig war, gab zu Protokoll, dass er zum Zeitpunkt als Rosenstiel die „herabsetzenden Äußerungen“ gemacht haben sollte nicht zugegen war. Die Zeugin M. K. aus Bobenthal gab zu Protokoll, dass sie Rosenstiel nicht näher kenne. Ähnlich äußerten sich Zeugin E. G. und ihr Mann vom Germanshof, die angaben, den Rosenstiel vorher nicht gekannt und ihn auch vorher nicht gesehen zu haben. Selbst der vernehmende Gendarm vermerkte, dass im hiesigen Dienstbezirk und speziell im Grenzgebiet Rosenstiel weder in Erscheinung getreten noch etwas über ihn bekannt sei. Schützenhilfe bekam Zimmer nur vom fanatischen Darsteiner Ortsgruppenleiter Peter Hauser. Dieser beschrieb ausführlich, wie die „Pfalzwachtbande“ unter Führung des Juden Rosenstiel in Darstein 1932 die 100%ige Hitlerwahl vergeblich zu verhindern suchte.
Das hier zusammengetragene perfide Machwerk des Ortsgruppenleiters Zimmer hätte zu einer Verurteilung Rosenstiels nicht ausgereicht, wenn nicht der Dahner Maurermeister J. M. zu Hilfe gekommen wäre. Dieser bestätigte im Mai 1937 dem Ortsgruppenleiter, dass er im März auf dem Anwesen von Sigmund Rosenstiel in der Pirmasenserstraße 6, eine Garage errichten sollte. Es kam zwischen Rosenstiel und J. M. wegen einer fehlenden Baugenehmigung zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf Rosenstiel gesagt haben soll: „Geschissen gehört dem Fresser auf seinen Vierjahresplan“. Mit dem Fresser war Ministerpräsident Göring gemeint. Nachdem J. M. diese Aussage am 13. Mai 1937 auf seinen Eid genommen hatte, war das Schicksal Sigmund Rosenstiels besiegelt.
Rosenstiel, der immer wieder beteuerte, dass er diesen Satz nicht gesagt habe half nicht, dass auch er Zeugen benannte und sogar nachweisen konnte, dass J. M. auf ihn erbost sei, weil er ihm die Maurerarbeiten entzogen und dem Maurermeister P. Z. übertragen hatte. Ebenso blieb unberücksichtigt, dass dem J. M. diese belastende Behauptung erst zwei Monate später wieder eingefallen war, und er seine Behauptung in verschiedenen Variationen zu Protokoll gab. Selbst ein ärztliches Gutachten, das ihm eine schwere Krankheit attestierte, konnte Rosenstiel nicht retten.

Am 08. September 1937 verurteilte das Sondergericht beim Landgericht Frankenthal unter dem Vorsitzenden Landgerichtdirektor Dr. J. den jüdischen Kaufmann Sigmund Rosenstiel wegen Vergehens gegen das Heimtückegesetz IM NAMEN DES DEUTSCHEN VOLKES zu einer Gefängnisstrafe von 8 Monaten und zu den Kosten des Verfahrens. Auf die Strafe wurden 2 Monate der erlittenen Untersuchungshaft angerechnet. In der Urteilsbegründung räumte das Gericht zwar ein, dass der Zeuge J. M. im Laufe der mehrmaligen Vernehmung während des Strafverfahrens seine Aussagen in den Einzelheiten nicht immer übereinstimmend angeben habe, aber man glaube der beeidigten Aussage des Zeugen J. M., da er einen guten Ruf genieße. Beim Strafmaß wurde die besondere Schwere der in der Äußerung enthaltenen Beleidigung und die Tatsache berücksichtigt, dass es sich bei dem Angeklagten um einen „typischen frechen Juden“ handle. Das Gericht betonte, dass der Angeklagte von dem Zeugen Zimmer als einer der frechsten Juden von Dahn überhaupt bezeichnet wurde.
Am 20.01.1938 holte Tochter Meta ihren schwerkranken und haftunfähig gewordenen Vater aus dem Gefängnis Frankenthal und brachte ihn in das Krankenhaus St. Josef nach Schweinfurt. Sigmund Rosenstiel ist am 13.05.1938 in Schweinfurt gestorben und auf dem jüdischen Friedhof in Euerbach bei Schweinfurt beerdigt. Am 28. Juni 2006 wurde für Sigmund Rosenstiel in der Marktstraße Nr. 24 in Dahn ein STOLPERSTEIN gesetzt.
Aus der Akte geht eindeutig hervor, dass der NSDAP-Ortsgruppenleiter Karl Zimmer zu seinem menschenverachtenden Treiben weder gedrängt noch befohlen wurde. Er tat dies freiwillig und aus eigenem Antrieb. Er hat aus Überzeugung gehandelt. Karl Zimmer gehörte zu denen, die mehr getan haben als sie hätten tun müssen.



Begriffserklärung:

Heimtückegesetz: NS-Gesetz vom 20.12.1934 gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Uniform. Seine unklaren und weit gefassten Tatbestände erlaubten den Behörden, die politische Opposition einzuschüchtern und zu unterdrücken.

NSDAP: Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. An der Spitze stand Adolf Hitler, der die absoluter Macht und die volle Befehlsgewalt besaß.

Ortsgruppenleiter: Er stand einer Ortsgruppe der NSDAP vor. Faktisch kontrollierte er den Bürgermeister und durfte ihm Weisungen erteilen. Die Zuständigkeiten zwischen staatlicher Organisation und Parteigliederung waren nicht klar abgegrenzt.

Pfalzwacht: Eine 1930 in Kaiserslautern gegründete Selbstschutzorganisation, um Veranstaltungen von katholischen Parteien und Organisationen gegen Angriffe politischer Gegner, insbesondere gegen SA-Terror, zu schützen.

Vierjahresplan: Der Vierjahresplan von 1934 sollte unter Leitung von Hermann Göring die Wirtschaft und Armee innerhalb von vier Jahren in Kriegsbereitschaft versetzen. Die Privatwirtschaft wurde gezwungen, sich den Erfordernissen anzupassen.



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