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Dahn im April 2012


Zum Tode von Mariechen Katz, geb. Dausch
Heimat – für immer und ewig (verloren)

Von Susan Katz-Bloom



Meine Mutter Mariechen Katz, geborene Dausch, lebte 77 Jahre in den USA/N.Y.
Sie musste während der NS-Zeit ihre Familie und ihre Heimat verlassen, um endlich frei zu sein, meinen jüdischen Vater zu heiraten. Obwohl New York zum Lebensmittelpunkt meiner Mutter wurde, wusste jeder, der sie kannte, dass „Heimat“ für sie (und meinen Vater Eugen) nur Dahn war und zwar für immer und ewig.
Die Mitglieder unserer Flüchtlingsfamilie und unserer jüdischen Dahner Freunde wohnten überall zerstreut in New York. Sonntagnachmittags und an Feiertagen trafen wir uns. Egal in welchem Appartement wir uns trafen, ob bei Anneliese und Eugen Kullmann in Brooklyn, bei Emil Halfen in der Bronx, bei Alice Romer in Manhattan oder bei uns in Queens, wo auch der Bruder meines Vaters Dr. Willy Katz wohnte, alle Wohnungen waren Kopien der alten Familienwelt, der Dahner Heimat, die sie verlassen mussten. Gerahmte Fotografien vom Jungfernsprung hingen an den Wänden, ebenso Bilder spielender Kinder vor den Häusern, glückliche Freunde Arm in Arm im Dahner Wald, das Fußballteam meines Vaters, meine Mutter und ihre Freundinnen in ihren bunten Frühlingskleidchen. Und da waren immer wieder die Witze und lustigen Geschichten von Menschen in Dahn und den umliegenden Dörfern in der Pfalz.
Es gab aber auch die anderen Sonntage. Ich war sehr jung, als an einem solchen Sonntagnachmittag die Küchentür verschlossen wurde und ich hörte meine Eltern, meine Oma und Onkel Willy weinen. Ich und meine Schwester lauschten vor der Tür und wussten, dass wir nicht hineingehen durften. Es war die Zeit der schrecklichen Nachrichten aus Europa, die auch meine Mutter und meinen Vater betrafen. Beide Brüder meiner Mutter waren in der deutschen Armee, der eine in Russland, der andere in Ägypten. Über ihren Verbleib und ihr Schicksal erreichten meine Mutter keine Nachrichten.
Gleichzeitig waren Omas Schwester und ihre Familie im Lager Gurs/Pyrenäen und schrieben flehende Bittbriefe um Hilfe, die nicht möglich war. Die jüdischen New Yorker Familien hielten zusammen und teilten ihre Sorgen. Ich erinnere mich, dass mein Vater viele Pakete mit Kaffee und Mehl zu meiner Großmutter nach Dahn schickte. Mit dem Kriegsverlauf in Europa wurde das Lachen in unserer Familie immer weniger. „Nie mehr nach Deutschland zurück!“ hörte man jetzt sehr oft in unserer Familie. Im Herzen und Kopf meiner Mutter aber blieb die Sehnsucht nach der Heimat wach. Das Essen, das sie bereitete, wurde aufgetischt „genauso, wie es meine Mutter kochte.“ Ihr Sinn für Poetik wurde offenbar, wenn sie durch den Park ging und sang: „Im schönsten Wiesengrunde“. Die blühenden Kastanienbäume an der kath. Kirche waren für meine Mutter der Beginn des Frühlings und das Schwimmen in der Wieslauter verband sie mit dem Sommer, wo sie unerwartet schwimmen gelernt hat, von einem Tag auf den anderen. Jede Jahreszeit erlebte sie an zwei Orten, in der Gegenwart und in der Vergangenheit.
Meine Mutter und mein Vater warteten 31 Jahre bis sie wieder unter dem Jungfernsprung und in der Stadt, die sie liebten, spazierengingen. Im Jahre 1966, als sie zum ersten Mal nach Dahn zurückkehrten, waren noch viele Familienmitglieder meiner Mutter am Leben, und eine jüdische Familie war zurückgekehrt. Ich beobachtete voller Freude meine Eltern an ihrem Geburtsort, wo sie keine Anekdoten oder Geschichten übersetzen mussten, die nur im Dahner Dialekt erzählt werden konnten. Das Gedächtnis meiner Mutter für Gedichte und Lieder war überwältigend und mein Vater war ein begnadeter Geschichtenerzähler geblieben.
In dieses Glücksgefühl zuhause zu sein, mischte sich die Angst, vielleicht zu erfahren, dass Nachbarn, Freunde oder die eigene Familie in Kriegsgeschichten verwickelt waren. Sie hofften, dass dies nie wahr würde. Das waren Augenblicke, in denen sie den Abstand spürten, den sie zurückgelegt hatten. Auf dieser Fotografie lehnt meine 18 Jahre alte Mutter an meinem 25 Jahre alten Vater im Dahner Wald. Sie trägt ihr Lieblingskleid. Sie wissen, dass sie sich lieben und wollen heiraten. Sie wissen nicht, dass ihre Heirat weit weg und ohne ihre Familie sein wird. Sie wissen nicht, als sie Deutschland verlassen, dass meine Mutter ihren Vater nie mehr sehen wird. Sie wissen nicht, dass Menschen, die sie lieben, unaussprechliche Dinge tun und andere liebevoll heroische Akte des Widerstands leisten. Aber sie wissen auch nicht, dass ihre Liebe zueinander wachsen wird 45 Jahre lang, bis zum Tod meines Vaters und nie erlöschen wird. Weitere 32 Jahre nach seinem Tod hielt meine Mutter Zwiegespräche mit meinem Vater, als ob er anwesend wäre. Und an einem ihrer letzten Tage ihres Lebens, im Januar 2012, erinnerte meine Mutter ein verschneiter Himmel an ihre gemeinsamen Spaziergänge im Dahner Wald.
Da so viele tiefsitzende Erinnerungen meiner Eltern sich um diese Wälder drehen – ihren Geruch, ihre Schönheit, die Kiefern im Sommer und Winter - hoffe ich, dass ich eines Tages ihre Asche nach Dahn bringe und mit ihnen zurückkehre, ohne irgendjemandes Erlaubnis, zu den Wäldern, die sie liebten, an den Platz, der nie weit von ihren Herzen war.

Susan Katz Bloom
5623 N.E. Cleveland Ave.
USA-97211 Portland, Oregon

Dieser Bericht wurde von Elisabeth Weber übersetzt.



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