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Dahn im März 1999


Die letzte Bar Mitzwa in der Dahner Synagoge

Von Otmar Weber



Am 03. März 1934 feierte Karl-Heinz Levy die letzte Bar Mitzwa in der Dahner Synagoge.
Darüber berichtet er in einem Brief vom 11.03.1999

Ein Bar-Mitzwa-Kandidat muss während einer Vorbereitungszeit von zwölf Monaten neben vielen rituellen Gebräuchen auch seine „Pasche“ lernen, das ist der Abschnitt in der Tora, der an diesem Schabbes (Schabbat/Sabbat) zur Vorlesung kommt. Eine Bar Mitzwa findet in der Regel am ersten Schabbes nach dem 13. Geburtstag statt. Da wird der Junge in der Synagoge beim Morgengottesdienst feierlich zur Toralesung aufgerufen und auch mit dem Vortragen der Haftara (Zusatzlesung aus den Prophetenschriften) geehrt. Da ich damals das Realgymnasium Philanthropin in Frankfurt besuchte, hatte ich das Glück, vom letzten Lehrer der israelitischen Schule, der gleichzeitig Vorbeter in der Dahner Synagoge war, Herrn Ludwig Nußbaum, auf die Bar Mitzwa in Dahn vorbereitet zu werden.
Lehrer Ludwig Nußbaum hat nach seiner Zwangspensionierung durch die Nationalsozialisten Dahn verlassen und ist mit seiner Familie kurz vor Weihnachten 1933 nach Frankfurt gezogen. Er, seine Frau Selma, seine Tochter Ilse und seine Mutter Dorothea wurden von Frankfurt aus in den Osten deportiert und sind dort umgekommen. Zwei seiner Kinder, Grete und Manfred, kamen über die Schweiz nach Israel und haben dort überlebt. Während meines Aufenthaltes in Frankfurt wohnte ich bei meinem Onkel Sally Markus. Seine Wohnung lag nur zwei Straßen von Lehrer Nußbaums Wohnung entfernt. Um rechtzeitig zum Freitagabend- Gottesdienst, zum „Eref-Schabbes“ in Dahn zu sein, bekam ich vom Realgymnasium Philanthropin in Frankfurt einen Tag schulfrei. Zusammen mit meinem Onkel Sally fuhr ich mit der Bahn nach Dahn, wo mich meine Familie und die ganze Mischpoche erwarteten. Mein Vater begleitete mich in die Synagoge, um den „Eref-Schabbes“ zu feiern. In Dahn wurden die Gottesdienste außer am Samstagmorgen nur von männlichen Gemeindemitgliedern besucht.
ln den „Eref-Schabbes“ Gebeten wird der Schabbes als Braut mit dem Lied L'CHO DODI begrüßt und mit einem Kiddusch und Wein beendet. Meine Bar Mitzwa fand im Gottesdienst am Samstagmorgen statt. Der Gottesdienst begann mit dem „Schachris-Gebet“, das bis zum Ausheben der Tora aus dem Aron HaKodesch (Heilige Lade/Toraschrank) dauerte. Die Tora wurde zum Almemor (Vorlesepult) gebracht, enthüllt, aufgerollt und der Gebetsabschnitt für diesen Schabbes vorgelesen. Es ist eine Ehre zum Almemor, zur Tora, aufgerufen zu werden.

Die Reihenfolge der Aufgerufenen ist ein Brauch, der vom ursprünglichen Tempelgesetz entstammt:
1. Ha Kohen: Aus dem Priesterstamm,
2. Ha Levi: Aus dem Levitenstamm,
3. Israel: Alle anderen Stämme.


Zur damaligen Zeit teilten sich in der Dahner Synagoge Herr Julius Katz aus der Marktstraße 16 und mein Onkel Simon Levy II. aus der Schäfergasse 2 (Judengasse) das Amt des Vorbeters.
Bei meiner Bar Mitzwa durfte ich, wie alle jüdischen Jungen, zum ersten Mal den „Tallis“ (Tallit = Gebetsschal) tragen. Mein Onkel Simon hat mich mit meinem hebräischen Namen JAKUSIEL BEN JOSEF HA-LEVI aufgerufen. Mein Vater, Julius Levy, begleitete mich zum Almemor. Während der Zeremonie stand er rechts und mein Onkel Simon links von mir. Mein Vater stand genau an der Stelle, wo er vor 35 Jahren - 1899 - seine Bar Mitzwa erhalten hatte.
Onkel Simon zeigte mit dem silbernen Yad (Zeigestab) auf den Abschnitt in der Tora, auf meine „Pasche“, die ich zu lesen hatte. Nachdem ich eine „Broche“ (Bracha = Segensspruch) gesagt hatte, übergab er mir den Yad und ich begann meine „Pasche“ zu lesen; das dauerte etwa zehn Minuten und endete wieder mit einer „Broche“. Mein Vater und Onkel Simon segneten mich nach rituellem Brauch. Meine Mutter blickte voll Stolz von der Frauenempore auf ihren Erstgeborenen.
Bevor die Torarolle wieder zum Aron HaKodesch gebracht wurde, musste das Haftaragebet gesagt werden. Wilhelm Katz aus der Marktstraße 14, der heute in den USA lebt, hatte die Ehre, an diesem Schabbes die Haftara zu sprechen. Danach kam das „Mussafgebet“. Der Gottesdienst wurde mit dem Kaddisch (Gebet der Heiligung, zur Verherrlichung Gottes) beendet. Nach dem Gottesdienst erwartete mich im Elternhaus, in der Weißenburgerstraße 2, die ganze Mischpoch. Meine Mutter gab mir ihren Segen; danach gab es im „guten Zimmer“ das Festessen. Ich wurde reich beschenkt. Man gab mir die Ehre, den Kiddusch (Segensspruch) und das Tischgebet zu sprechen.
Am Nachmittag ging es wieder in die Synagoge zur Mincha (Vespergebet) mit Tora und drei Aufrufungen. Zum Schabbesende, nach Sonnenuntergang, ging es nochmals in die Synagoge, um mit dem „Marifgebet“ und der „Hafthole“ (Hafdala = Verabschiedung des Schabbat) den Schabbes zu beenden.
Zu Hause beendete ein Kiddusch mit gefochtener Kerze, einem Becher Wein und Süßkräutern (Zimt) den Schabbes. Alle wünschen sich gegenseitig: „Gut Woch“. Nach dem Abendessen bot mir Otto Rosenstiel“, der Cousin meiner Mutter, eine Zigarette mit den Worten an: „Karl, heute bist du ein Mann geworden, darauf müssen wir Eine rauchen.“ Nach ein paar Zügen fing ich an zu husten. Danach habe ich nicht mehr geraucht bis zu meinem Aufenthalt im KZ Dachau; hier rauchte ich aus Hunger. Am nächsten Tag, am Sonntag, musste ich abreisen, um am Montag wieder in der Schule zu sein. Meine Klassenkameraden überraschten mich mit dem Klassikerbuch „Ben Hur“. Von den Pfadfinderjungen erhielt ich eine geschnitzte Halstuchschlaufe aus Elfenbein.
Nach hebräischem Gesetz war ich jetzt religiös volljährig!
Karl-Heinz Levy hat überlebt, die meisten Mitglieder seiner Familie nicht. Seine ältere Schwester Rosel ist schon Mitte der 1930er Jahr in die USA ausgewandert, Karl- Heinz emigrierte Anfang 1939 nach seiner Entlassung aus dem KZ Dachau nach England. 1948 ging er mit seiner Frau Hanna nach New York. Beide sind inzwischen verstorben und haben ihre letzte Ruhestätte auf dem jüdischen Friedhof Busenberg gefunden.
Vater Julius, Mutter Elsa, geb. Rosenstiel, Schwester Gertrud, Bruder Helmut, Onkel Ludwig Levy, Tante Blüta (Barbara) Levy und Tante Helene Rosenstiel mussten am 01.09.1939 Dahn verlassen und gingen nach Mannheim. Am 22.10.1940 wurden alle in das französische Lager Gurs/Pyrenäen deportiert und von dort auf verschiedene Lager in Südfrankreich verteilt. Außer Schwester Gertrud, die versteckt überlebt hat, sind alle anderen umgekommen. Sie wurden ab Mitte 1942 in die Vernichtungszentren des Ostens deportiert und ermordet.

Anmerkung: Karl-Heinz Levy hat dem Verfasser in einem Brief vom 11.03.1999 aus Fort Myers / Florida, USA
ausführlich seine Bar Mitzwa und den Gottesdienst in der Dahner Synagoge geschildert.



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