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Dahn im April 2000


Familienangehörige ausgelöscht, als hätten sie nie gelebt – Anatoli Ivanov

Von Otmar Weber



Der ehemalige Ostarbeiter/Zwangsarbeiter Anatoli Ivanov, der heute in der Stadt Perm/Ural (Rußland) lebt, hat im November 1998 an den Dahner Stadtbürgermeister geschrieben, dass er davon träume, Deutschland zu besuchen, das Land, wo er gearbeitet hat und wo seine Mutter und Geschwister begraben sind. Anatoli Ivanov war von Februar 1944 bis Mai 1945 zusammen mit seiner Familie beim Sägewerk Thomasser Dahn-Reichenbach, untergebracht. Er, sein Vater und die älteste Schwester haben im Sägewerk gearbeitet. Seine Mutter und die beiden jüngeren Geschwister sind bei einem Bombenangriff am 15. Januar 1945 zusammen mit sechzehn weiteren Zivilarbeitern/Ostarbeitern im Bunker auf dem Gelände des Sägewerkes Thomasser, umgekommen.

In einem Brief vom März dieses Jahres schildert Anatoli Ivanov dem Verfasser detailliert das Schicksal, das seiner Familie während der NS-Zeit widerfahren ist:
Bevor wir 1943 nach Deutschland deportiert wurden, wohnten wir friedlich in unserem Haus am Rande der Stadt Witebsk in Weißrusslands. Eines Tages wurde mein Vater und meine Mutter von der Gestapo abgeholt, ins Gefängnis gebracht, geschlagen und grausam gefoltert. Man warf ihnen vor, sie hätten Beziehungen zu Partisanen gehabt. Aber sie wussten von nichts und konnten nichts sagen. Einige Bekannte aus unserem Dorf hatten einmal eine Nacht in unserem Haus geschlafen. Einer von ihnen ist von den Deutschen verhaftet und verhört worden. Unter Folter hat er ausgesagt, dass er bei uns übernachtet habe. Daraufhin sind meine Eltern verhaftet worden. Ich war damals 13 Jahre alt und hatte noch drei Geschwister. Wir litten Hunger, dennoch brachten wir Lebensmittelpäckchen zu unseren Eltern ins Gefängnis.

Im März 1943 rückte die Rote Armee näher. Die Deutschen begannen Festungsanlagen zu bauen und deportierten Bevölkerungsteile nach Westen. Mit vielen anderen wurden wir Kinder zum Bahnhof gebracht und in Viehwaggons gesteckt. Der Zug war voll mit Zwangsarbeitern. Hier trafen wir auch unsere Eltern. Niemand sprach mit uns. Wir wussten nicht, wohin wir gebracht wurden. Die erste Station war ein Etappenlager in Litzmanstadt, heute Lódz in Polen. Die Bedingungen waren dort sehr schlecht. Wir litten großen Hunger. Im Herbst 1943 wurden wir in den Westen Deutschlands gebracht. Nach mehreren Stationen kamen wir in das Lager in der Nähe der Stadt Pirmasens. In diesem Lager waren die Lebensbedingungen noch schlechter als in Polen. Täglich gab es 200 Gramm Brot und eine sehr wässrige Suppe. Man durfte das Lager nicht verlassen. Täglich starben Leute an Hunger. Oft kamen Bauern und Wirte ins Lager, um sich arbeitsfähige Leute auszuwählen. Alle Lagerinsassen träumten davon, möglichst schnell aus dem Hungerlager herauszukommen. Unsere Familie hatte kaum eine Chance: Wir waren sechs Familienmitglieder und davon nur drei arbeitsfähig.
Eines Tages hatten wir Glück: Wir wurden in das Sägewerk Thomasser auf der Reichenbach bei Dahn gebracht. Das war im Februar 1944. Hier war alles besser als im Lager bei Pirmasens. Wir bekamen Nahrungsmittel und kochten uns selbst in unserem Zimmer auf einem Herd, der mit Briketts befeuert wurde. Auf der Reichenbach wohnten wir nicht weit vom Sägewerk. Zwischen der Eisenbahn und dem Flüsschen Lauter befanden sich zwei zweistöckige Holzhäuser, ein kleineres und ein größeres. Unsere Familie war in einem Zimmer im größeren Haus untergebracht. Mein Vater Peter (50 Jahre) und ich (14 Jahre) arbeiteten im Sägewerk. Meine ältere Schwester Nina (17 Jahre) war als Dienstmädchen bei der Familie Thomasser tätig. Meine Mutter Wanda (45 Jahre) und meine beiden jüngeren Geschwister Tamara (11 Jahre) und Valentin (5 Jahre) arbeiteten nicht. Im selben Haus wohnte auch eine jugoslawische Familie mit ebenfalls sechs Personen: Mutter mit drei Söhnen, Tochter und dem Bruder der Mutter. Im Erdgeschoss des Hauses waren in einem großen Raum etwa zehn Kriegsgefangene untergebracht. Das kleinere Haus wurde von einer fünfköpfigen polnischen Familie bewohnt: Vater, Mutter zwei Töchter und Sohn. Insgesamt lebten in den beiden Häusern etwa 27 Personen.
Ich habe verschiedene Arbeiten verrichtet. So transportierte ich in einem großen Korb Sägemehl von den Schneidemaschinen in einen speziellen Raum. Zusammen mit anderen Arbeitern lud ich Schwellen und Bretter auf die Eisenbahnwagen. Der Arbeitstag dauerte zehn Stunden. Die Leitung über uns alle hatte ein deutscher Obermeister. Thomasser hat das Sägewerk sehr selten besucht. Während der Arbeitszeit durfte man nicht ausruhen. Wir waren den ganzen Tag auf den Beinen. Eine Wachmannschaft gab es über Tag im Werk nicht, aber die deutschen Arbeiter hatten auf alle Ausländer ein wachsames Auge. Abends nach der Arbeit kam aus Dahn ein alter Wächter in unsere beiden Häuser. Seine Name war Vogel. Misshandlungen, gewalttätige Übergriffe oder Prügel gab es im Sägewerk nicht.

Während eines Luftangriffs am 15. Januar 1945 erhielt der Bunker, der sich zwischen den Eisenbahngleisen und unseren beiden Holzhäusern befand, einen Volltreffer. 19 Menschen sind dabei umgekommen. Nur der polnische Junge (etwa 8 Jahre) aus dem kleineren Haus hat als einziger überlebt. Unter den Opfern waren meine Mutter Wanda, meine Schwester Tamara und mein kleiner Bruder Valentin. Alle, die davonkamen, standen unter einem schweren Schock. Ich selbst war am Rande des Wahnsinns. Einige Nächte konnte ich weder schlafen noch weinen. Während des Luftangriffs wurde auch der Teil des Hauses, wo sich unser Zimmer befand, durch eine Bombe getroffen. Dokumente und Fotos sind vernichtet worden. Meine Mutter und Geschwister sind ausgelöscht, als hätten sie nicht gelebt.

Seit diesem schrecklichen Ereignis sind 55 Jahre vergangen. Die Wunden, die ich auf der Reichenbach bekommen habe, heilen nicht zu. Vielleicht wird es mir einmal vergönnt sein, meinen Angehörigen den Ort zu zeigen, wo ihre Lieben umgekommen sind.

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