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Dahn im Juni 2000


Zwangsarbeiter in der Heimat nochmals bestraft – Valentina Nikitina



Das Kriegsende im Frühjahr 1945 war für Zwangsarbeiter aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion eine Befreiung von nur kurzer Dauer. Während ihres Zwangsarbeitaufenthaltes in Deutschland und in den von Deutschland besetzten Ländern sind Hunderttausende durch Hunger und Entkräftung, durch Krankheiten und Epidemien, durch Erschießen und Erhängen umgekommen. Diejenigen, die als Arbeitssklaven den NS-Terror überlebt haben, wurden nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion dafür noch bestraft. Nach ihrer Befreiung aus den NS-Lagern schickte Stalin viele seiner Landsleute zur Zwangsarbeit in die Lager Sibiriens. Der Zeitzeuge Alfred Johann berichtet: „Während wir, kranke deutsche Kriegsgefangene, schon Ende 1945 in Sibirien aus russischer Kriegsgefangenenschaft entlassen wurden und in Richtung Heimat fuhren, begegneten uns auf unserer zehntägigen Fahrt nach Westen immer wieder Transporte mit russischen Zwangsarbeitern aus Deutschland, die Richtung Osten in die Lager Sibiriens rollten.“
Die Westalliierten erlaubten Stalin, alle sowjetischen Zwangsarbeiter aus Deutschland und den befreiten Gebieten (z. B. Elsaß und Lothringen) in die Sowjetunion zurückzuführen, auch diejenigen, die nicht mehr in ihre Heimat wollten, weil sie Stalins Rache fürchteten.

Manche Zwangsarbeiter wurden von sowjetischen Offizieren, Soldaten oder Landsleuten schon in Deutschland liquidiert.
In der Regel wurden die Zwangsarbeiter von sowjetischen Offizieren in Lagern für befreite Zwangsarbeiter gesammelt. Ein solches Lager befand sich für unsere Region in Pirmasens. Von hier aus wurden die befreiten Zwangsarbeiter in die sowjetisch besetzte Zone (SBZ) gebracht, wo sie einem strengen Verhör unterzogen wurden.
Diejenigen, die in ihre Dörfer und Städte zurückkehren konnten, haben bis 1989 ihren Zwangsaufenthalt in Deutschland selbst nächsten Angehörigen gegenüber verschwiegen. Wäre der Aufenthalt in Deutschland bekannt geworden, dann hätte dies Repressalien und Nachteile im beruflichen Fortkommen zur Folge gehabt. Von vielen, die in die Lager Sibiriens deportiert wurden, hat man nie mehr etwas gehört.

Wenige konnten sich verstecken und in Deutschland bleiben. Dem Verfasser sind einige Fälle bekannt.

Der russische Arzt, Dr. Laumer (?), der im Ostarbeiter-Krankenhaus Waldfischbach aufopfernd für seine Landsleute tätig war und auch manchem Deutschen geholfen hat, gehört zu denen, die von sowjetischen Offizieren, Soldaten oder Landsleuten in Deutschland liquidiert wurden. In der Rosenberger Chronik, Jahrgang 1945, ist auf Seite 31 folgendes über das Schicksal des russischen Arzt zu lesen: „Auch der russische Arzt, der das Ostarbeiter-Krankenhaus betreute, fand seine Zuflucht auf Maria Rosenberg. Da er kein Kommunist war, galt er bei seinen Landsleuten als Deutschenfreund. Deshalb trachtete man ihm nach dem Leben. Der amerikanische Kommandant in P’sens, der ihn retten wollte, gab ihm den Rat, in Maria Rosenberg unterzutauchen, was er auch tat. Trotzdem lebte dieser arme Mensch in ständiger Todesangst.
Unverständlicherweise begab er sich nach P’sens ins Lager der befreiten Zwangsarbeiter. Dort erkannte und verhaftete man ihn. Aus Nachrichten, die zwar nicht 100% verbürgt sind, aber doch als sicher gelten dürfen, wurde er in Hamburg erschossen. Er (war - d.V.) sehr dankbar dafür, daß wir ihn aufgenommen hatten. Als er den verhängnisvollen Gang nach Pirmasens antrat, hat er in der Ahnung, daß es ihm so ergehen könnte, wie es tatsächlich gekommen ist, - er wollte sich Papiere besorgen - ein Abschiedsbriefchen geschrieben, das hier seinen Platz finden soll. Der politische Mord geht weiter auch nach dem Abgang der Nazis!“ Der Wortlaut des Abschiedsbriefes lautet: „Herr Direktor! Ich war im Kloster Maria Rosenberg glück (lich - d.V.) gewesen. Bitten Sie Gott für mich. Ich lasse hier meine Ruhe Seele (Seele ruhen - d.V.). Wünsch (e - d.V.) Ihnen u. Schwester alles Gute. Sehr dankbar. Dr. Laumer (?).“
Ein Aquarell, das der russische Arzt gemalt hat, erinnert heute noch auf Maria Rosenberg an den mutigen Mann. Es stellt einen Blick auf Maria Rosenberg dar. Im Vordergrund zeigt es eine blühende Wiese, die oberhalb der ehemaligen Landwirtschaft liegt. In der rechten Ecke trägt es den Text: „Ich war fremd, und ihr habt mich beherbergt.“

Valentina Nikitina aus Nowosselje/Eisenbahn (südlich von St. Petersburg) war Tierärztin, hoch gebildet und sprach perfekt deutsch. Während des Krieges arbeitete sie als Dolmetscherin auf der deutschen Kommandantur in Nowosselje. Sie und ihre alte Mutter gelangten mit den zurückflutenden deutschen Soldaten 1945 bis nach Dahn. Hier wollte sie sich mit einem Soldaten treffen, den sie von Nowosselje her kannte. Sie und ihre Mutter haben im Sommer 1945 Dahn wieder verlassen müssen. Sie bekamen weder eine Zuzugsberechtigung noch Lebensmittelmarken. Die Odyssee der beiden Frauen führte durch halb Europa (Dahn - Pirmasens - Bad Dürkheim - Speyer - Idar-Oberstein - Paris - Westerburg bei Koblenz - Sigmaringen - Kirchenleibach - Plauen - Nürnberg - Königsee/Thüringen - Erfurt). Aus verschiedenen Städten, Krankenhäusern und Lagern kamen Briefe und Karten nach Dahn. Die Briefe sind ein einziger Hilferuf: Helft uns, damit wir nicht in die Sowjetunion zurück müssen! Im November 1945 liegt Valentina mit einem doppelten Beckenbruch in Erfurt im Krankenhaus. Eine Frau L. R. aus Königsee/Thüringen schreibt für Valentina einen Brief nach Dahn in dem es u. a. heißt: „Als das Lager hier aufgelöst wurde, ging Wally (Valentina) mit ihrer Mutter in die Landwirtschaft u. hat den Sommer dort gearbeitet wie ein Mann. Als es dann Zwang wurde, daß sie in ihre Heimat zurück musste, hat sie sich schweren Herzens (dazu) entschlossen. ... Das arme Mädchen hat Schweres durchgemacht. ... Ihr Herz zog es nach Dahn u. der Befehl lautete, zurück in die Heimat. Auf dem Transport dorthin wurde sie vom Auto geschleudert u. erlitt einen doppelten Beckenbruch. Wahrscheinlich war das zu ihrem Glück, denn sonst würde sie schon lange nicht mehr hier sein.“
Am 10.01.1946 schreibt Valentina aus dem russischen Lager Bad Dürkheim, dass es nach Osten geht.
Der letzte Brief Valentinas trägt das Datum vom 20.02.1946 und kommt aus Kirchenleibach. Dort heißt es: „Ich war mit meiner Mutter in Sigmaringen. Wir fahren jetzt nach Plauen über Nürnberg und dann nach Hause.“ In der Sowjetunion galt sie als Kollaborateurin. Seit dieser Zeit gibt es kein Lebenszeichen mehr von Valentina Nikitina aus Nowosselje.

Anatoli Ivanov wurde 1943 als Dreizehnjähriger aus seiner Heimatstadt Witebsk in Weißrußland über Lódz/Litzmanstadt in Polen in das Durchgangslager (Dulag) Pirmasens/Nord zur Zwangsarbeit deportiert. Von 1944 bis 1945 arbeitete er im Sägewerk Thomasser auf der Reichenbach bei Dahn. Nach seiner Befreiung kehrte er in die Sowjetunion zurück. Er lebt heute in der Stadt Perm im Ural.
In einem Brief vom Juni dieses Jahres berichtet Anatoli Ivanov dem Verfasser ausführlich über seine Deportation und Erfahrungen, die er in der Sowjetunion nach seiner Rückkehr gemacht hat:
„Ich wurde mit meinen Geschwistern in einen Viehwagen gebracht. Dort befanden sich schon meine Eltern, alte Männer, Frauen und Kinder. Mein Vater war stark verprügelt. Wir litten Hunger. Es gab eine wässrige Suppe mit ungeschälten Kartoffeln. Der Zug fuhr sehr langsam. Wir brauchten fast zwei Wochen bis Warschau. Hier wurden wir ausgeladen und fuhren mit der Straßenbahn durch die ganze Stadt, auch durch das Judengetto. Danach ging es in Viehwagen nach Lódz, wo wir in ein leeres Gefangenenlager eingewiesen wurden. Das Essen war schlecht und ungenügend; dennoch bekamen wir täglich ein Stück Brot. Die Erwachsenen mussten Wege ausbessern. Ein Deutschrusse, namens Reimer, der im Lager als Übersetzer tätig war, versuchte den russischen Kindern auf originelle Art die deutsche Sprache beizubringen. Herr Reimer war ein guter Lehrer. Er hat mit uns deutsche Lieder gesungen und Gedichte geübt. Diese Art zu lernen, war für uns sehr interessant. Er hat in uns die Liebe zur deutschen Sprache geweckt. Bis heute kenne ich die Lieder: ‘O Tannenbaum...’, ‘Leise rieselt der Schnee...’, ‘Am Brunnen vor dem Tore...’, ‘Röslein auf der Heide...’, ‘Wo die Nordseewellen rauschen...’, ‘Wenn ich den Wandrer frage...’, ‘Und die Sonne macht den weiten Ritt...’, ‘Santa Lucia..’ Von den Gedichten kenne ich noch ‘Es muß doch Frühling werden...’ und den ‘Erlkönig’ von Goethe.“
Ende 1943 kam Anatoli Ivanov mit seiner Familie in das Durchgangslager (Dulag) Pirmasens/Nord. Von allen Lagern, die er erlebt hatte, war das Dulag Pirmasens/Nord mit Abstand das schlechteste. Die Menschen litten sehr unter Hunger. Täglich gab es Hungertote. Anatoli sah, dass Gefangene geprügelt wurden. Seine Mutter informierte die Lagerleitung, dass ihr Vater, Ludwig Mormann, Deutscher war und während der Revolution 1918 von den Bolschewiken als Geisel erschossen wurde. Dies dürfte der Grund dafür gewesen sein, dass die Familie Ivanov wenige Tage später in das Sägewerk Thomasser auf der Reichenbach gebracht wurde.
Nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion musste Ivanov seinen deutschen Großvater und vor allem seinen Aufenthalt als Zwangsarbeiter in Deutschland verschweigen. Anatoli Ivanov schreibt dazu: „Die Deportation nach Deutschland galt in der U.S.S.R als ein sehr schändliches Faktum. Meinen Schulabschluss habe ich 1949 in Witebsk mit sehr gut bestanden. Ich wurde mit der Silbermedaille ausgezeichnet. Dadurch hatte ich mir den Anspruch auf einen Hochschulplatz ohne Aufnahmeprüfung erworben. Ich schickte meine Unterlagen ein und auf alle meine Bewerbungen erhielt ich die Antwort: ‘Zu unserem Bedauern, können wir Sie nicht bei uns aufnehmen.’ Meine ältere Schwester in Charkow riet mir bei den nächsten Bewerbungen die Deportation nach Deutschland nicht zu erwähnen. Ich befolgte ihren Rat und konnte an der Hochschule in Charkow Bergbau studieren. Mein Studium habe ich 1954 beendet. Heute bin ich Dozent. Von 1949 bis 1989 habe ich keinem Menschen, außer meiner Frau gesagt, dass ich als Zwangsarbeiter in Deutschland war. Dafür hatte man in der U.S.S.R. kein Verständnis. Nach dem Krieg sind die Deutschen hart verfolgt worden. Deshalb musste ich meine deutschen Wurzeln und meine Deportation nach Deutschland verheimlichen.“
Nach fünfundfünfzig Jahren erfüllt sich für Anatoli Ivanov sein sehnlichster Wunsch: Er kommt mit Tochter und Enkelkind nach Deutschland und will vom 21.08. bis 31.08.2000 die Orte besuchen, wo seine Lieben gearbeitet haben und begraben sind. Die Stadt Dahn hat Anatoli Ivanov eingeladen.

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