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Dahn im August 2000


Der Fall Ruth Wegmann – Ein Jahr Zuchthaus für eine Orange
Blumen für „Terrorflieger“ mit Zuchthaus bezahlt



- Doppeltes Unrecht - Von den Nazis wegen einer Orange 1944 für ein Jahr ins Zuchthaus gebracht - bei Kriegsende von Dahnern auf eine Deportationsliste gesetzt und in das berüchtigte Lager Poitiers deportiert - Nie eine Entschädigung erhalten.

In der RHEINPFALZ vom 18. Juli 2000 lautet die Schlagzeile auf der ersten Seite „Vertrag über Entschädigung von Zwangsarbeitern unterzeichnet“. Dieser Vertrag hat lange auf sich warten lassen. Für die meisten Opfer kommt er zu spät. Hoffentlich bekommen alle noch lebenden Opfer den ihnen zustehenden Anteil aus dem Zehn-Milliarden-Topf.
Es gibt immer noch viele, die leer ausgehen. Frau Ruth Wegmann gehört zu dieser Gruppe. Ihr Fall ist exemplarisch für viele Deutsche, die unter den Nazis Unrecht erlitten haben, Zwangsarbeit verrichten müssten und bis heute keine Entschädigung erhalten haben. Der folgende Artikel, der sich fast ausschließlich auf Aktenmaterial stützt, will aufzeigen, was in der NS-Zeit und kurz danach Deutsche Deutschen angetan haben, wofür es weder eine Sühne für die Täter noch eine Entschädigung für die Opfer gegeben hat.
In ihrer Ausgabe vom 4.7.1944 berichtet die NSZ Rheinfront unter der Überschrift: ZUCHTHAUS FÜR UNWÜRDIGES VERHALTEN über Ruth Wegmann aus Dahn, die wegen Vergehens nach § 4 der Wehrkraftschutzverordnung verurteilt wurde.
„Von dem Landgericht Zweibrücken wurde die 1918 geborene Ruth W e g m a n n wegen verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen zu einer Zuchthausstrafe von einem Jahr und drei Jahren Ehrverlust verurteilt. Das Verhalten der Verurteilten verstieß derart gegen jedes gesunde Volksempfinden, daß nur eine Zuchthausstrafe in Frage kommen konnte. Die Angeklagte, selbst fliegergeschädigt, brachte es fertig, einen im Krankenhaus liegenden abgeschossenen kanadischen Terrorflieger, als sie ihre dort liegende Mutter besuchte, wiederholt aufzusuchen und ihm sogar einmal Blumen und eine Orange zu schenken. Ihr Beweggrund war, wie sie angab, ihre englischen Sprachkenntnisse aufzufrischen. Obwohl der Angeklagten keine andere Absichten nachgewiesen werden konnten, entspricht die Zuchthausstrafe durchaus dem Empfinden unseres gesamten Volkes.
Es ist unwürdig und einfach unmöglich, daß eine deutsche Frau irgendwelche Beziehungen, wie immer sie geartet sein mögen, aufnimmt zu einem Angehörigen der anglo-amerikanischen fliegenden Terrorbanden, die sich selber stolz als „Mordvereine“, losgelassen auf wehrlose Zivilisten, bezeichnen.“ Die Akte, Nr. B 7489, welche die Geheime Staatspolizei über Ruth Wegmann angelegt hat, ist beim Landesarchiv (LA) Speyer deponiert. Dort ist das Teuflische der NS-Rechtssprechung auf jeder Seite festgehalten.

Am 27. Juni 1944 erging „Im Namen des Deutschen Volkes“ folgendes Urteil:
„Die Strafkammer des Landkreises Zweibrücken erkennt in dem Strafverfahren gegen Wegmann, Ruth ...wegen verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen -, in der öffentlichen Sitzung vom 27. Juni 1944 ... auf Grund der Hauptverhandlung zu Recht: Die Angeklagte hat etwa zehn mal einen im Krankenhaus Dahn liegenden kanadischen Terrorflieger besucht, ihm einmal Blumen und eine Orange gebracht, sie wird demnach wegen fortgesetzten verbotenen Umgangs mit einem Kriegsgefangenen zu einer Zuchthausstrafe von einem Jahr verurteilt, die Ehrenrechte werden ihr auf die Dauer von drei Jahren aberkannt. Drei Wochen Untersuchungshaft werden angerechnet. Sie hat die Kosten zu tragen.“
Tatsache ist, Ruth Wegmann unterhielt sich mit einem verwundeten kanadischen Flieger im Dahner Krankenhaus in englischer Sprache und schenkte ihm bei einem ihrer Besuche einen Blumenstrauß und eine Orange. Drei weitere Frauen verhielten sich genauso menschlich wie Ruth, doch nur sie wurde verurteilt. Ruth Wegmann war das Bauernopfer. Was Männer aus Dahn, Hauenstein und Hinterweidenthal letztlich bewog, Ruth Wegmann zu denunzieren, geht aus den Akten nicht hervor. Klar ist, dass sie denunziert wurde.
Ruth Wegmann wurde von einem Polizisten ins Untersuchungsgefängnis nach Pirmasens gebracht. Von hier aus wurde sie in Handschellen ins Gefängnis nach Zweibrücken geschafft, wo sie drei Wochen in Einzelhaft verbrachte. Die ersten Tage nach der Verurteilung blieb sie im Gefängnis Zweibrücken. Danach ging es mit der Deutschen Reichsbahn über Ludwigshafen, Frankfurt und Gießen in das Frauenzuchthaus Ziegenhain in Hessen.
Hier musste sie unter menschenunwürdigen Bedingungen mit Leidensgenossinnen aus ganz Europa Schwerstarbeit in einer Munitionsfabrik leisten. Selbst bei Bombenalarm mussten die Frauen weiterarbeiten; das Aufsuchen von Luftschutzräumen (LSR) war den Gefangenen verboten. Unter den Frauen befanden sich viele „Politische“. Eine Frau war von einem Kriegsgefangenen schwanger, die andere hatte „Feindsender“ gehört und eine war Mitglied einer religiösen Sekte. Junge Frauen aus Luxemburg waren aus Sippenhaft für ihre Brüder eingesperrt worden. Gefürchtet waren die Morgenappelle, wo die Frauen, nur mit einer Wolldecke bekleidet, stundenlang bei klirrender Kälte ausharren mussten. Das Essen war ungenügend. Es herrschte Hunger. Man schlief in Sälen auf Strohsäcken, oft gab es für zwei bis drei Frauen nur einen Strohsack. Die Hygiene war ungenügend; das Ungeziefer allgegenwärtig. Gegen Ende des Krieges brachen Seuchen aus. Es herrschte das blanke Chaos. Ruth Wegmann wurde am 15.03.1945 aus dem Zuchthaus Ziegenhain entlassen, weil die Alliierten vor den Toren standen. Sie war unterernährt, völlig abgemagert, verlaust, von schweren Hungerödemen gezeichnet und des Gehens kaum noch mächtig. Die offenen Beine und Füße waren mit Papierbinden umwickelt. Die Narben der Hungerödeme sind heute noch sichtbar.
Auf abenteuerlichen Wegen gelangte Ruth über Gießen nach Ludwigshafen zurück. Hier holte sie ihr Vater mit dem Fahrrad ab und brachte sie unter ständigen Tieffliegerangriffen und Jabobeschuss auf dem Gepäckträger nach Dahn.

In Dahn waren Ruth Wegmann nur wenige Wochen bis zu ihrer nächsten Verhaftung vergönnt. Am 22.03.1945 wurde Dahn durch die Amerikaner befreit. Als die Amerikaner nach wenigen Wochen weiterzogen, rückten französische Truppen in Dahn ein. Dahner Bürger erstellten eine LISTE, die über fünfzig Personen enthielt; es soll sich dabei um ehemalige Dahner Nazis gehandelt haben. Auf dieser LISTE standen auch Ruth Wegmann, ihre jüngere Schwester und ihr Vater. Ruth Wegmann ist Halbjüdin, ihre Schwester war damals noch ein Kind und Herr Wegmann war in keiner NS-Organisation, weil unter allen Umständen Ruth schützen wollte. Aus welchem Grund wurden diese drei Personen auf die DAHNER LISTE gesetzt? Die LISTE ist von Dahnern den Franzosen übergeben worden. Daraufhin hat am 19.04.1945 französisches Militär Dahn umstellt, die Männer in der kath. Kirche zusammengetrieben und dort an Hand der LISTE eine Selektion vorgenommen. Ruth Wegmann wurde zusammen mit 45 Dahnern nach Poitiers deportiert. Nach einer weiteren Leidenszeit wurde sie im November 1945 nach Dahn entlassen.
Es kann nur als Skandal bezeichnet werden, dass Ruth Wegmann während der NS-Zeit von den Nazis wegen „Kollaboration mit dem Feind“ ins Zuchthaus gebracht wurde und nach der NS-Zeit sofort von Nichtnazis - oder waren es die gleichen? - als „NS-Kollaborateurin“ den Franzosen übergeben wurde. Die Denunzianten und ihre Beweggründe liegen bis heute im Dunkel. Sie haben Ruth Wegmann, doppeltes Unrecht angetan. Die Nazis haben Ruth 1944 wegen einer Orange ins Zuchthaus gebracht, Dahner Bürger haben sie im April 1945, nach der Befreiung durch die Amerikaner, auf die DAHNER LISTE gesetzt und in das Lager Poitiers deportieren lassen. Ruth Wegmann wurde dafür bestraft, dass sie menschlich gehandelt hat. Ihr „Verbrechen“ bestand einzig darin, dass sie das Gebot der Nächsten- und Feindesliebe ernstgenommen hat.

In einem Schreiben des Ministeriums der Justiz des Landes Rheinland-Pfalz/Koblenz vom 18. Oktober 1949 werden Ruth Wegmann die durch die Nazi aberkannten bürgerlichen Ehrenrechte wieder verliehen. Auf einer Postkarte wurde Ruth Wegmann Anfangs der 50er Jahre mitgeteilt, dass ihrem Wiedergutmachungsantrag nicht stattgegeben werden könne, da sie „nicht aus politischen“ sondern „aus menschlichen Motive“ gehandelt habe.
Ruth Wegmann hat von der Bundesrepublik Deutschland bis heute keine Wiedergutmachung bekommen.

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